Nach alter Manier des Springer-Verlages ist die Suche nach einem dramatisch klingenden Head für das Derby schnell beendet: „Pyro-Ärger im Dynamit-Derby“ titelt die Bild-Zeitung und zieht ein erstes Fazit zu den vermeintlichen Geschehnissen rund um den 06. November 2016. Dass die Bild-Zeitung mit den typischen Überschriften ein grundsätzlich mehr als fragwürdiges Bild bei Lesern und Gesellschaft suggeriert (bekanntlich nichts neues), soll aber hier ausnahmsweise Mal nicht weiter erläutert werden(1).
Zur Vorbereitung und Recherche für meinen Beitrag wurde mir zum Glück aber unter anderem die Medienkritik zum Karlsruhe-Stuttgart-Derby von ULTRA1894.de empfohlen. Erstaunlicherweise wird mir bereits beim ersten Überfliegen der Stellungnahme aus Karlsruhe klar, dass sich mehr als nur ein paar Parallelen ziehen lassen. Es sind z.T. exakt dieselben Themen, die ein paar hundert Kilometer südlich von uns von den sensationsgeilen Medien und irgendwelchen Funktionären rauf und runter gefaselt werden und das Stimmungsbild in den Tagen vor, während und nach dem Derby bestimmt haben. (2)
Vorweg noch eins: Sicherlich ist es falsch, pauschalisiert von den Medien, der Polizei und der Politik zu sprechen, wenngleich man selbst auch immer eine differenzierte Berichterstattung und Beurteilung fordert. In der Summe aber, wenn sich die Teile fügen, die ein Szenario zelebrieren, welches mehr Aufmerksamkeit genießt als die Tatsache, dass die Einschränkung der Grundrechte an diesem Tag weit über die zulässigen Schranken und das Maß hinausgehen, dann läuft nicht nur in Braunschweig einiges gewaltig schief.
Der erste mediale Aufschrei beginnt mit den von der Polizei ausgesprochenen Betretungsverboten für 144 Fans aus Braunschweig, Magdeburg, Mannheim, Hannover, Hamburg und Bielefeld. Auf dessen Grundlage begannen eine Vielzahl von regionalen und einigen überregionale Medien die Berichterstattung rund um das Niedersachsenderby.
Während die regionalen Medien derweil noch bemüht waren, eine objektive Sichtweise zu behalten, rechtfertigte sich die Pressestelle der Polizei bezüglich der Betretungsverbote bereits wie folgt: „Bei einem eskalierenden Verlauf aufgrund gruppendynamischer Prozesse besteht hier die Gefahr, sich entwickelnde Auseinandersetzungen mit polizeilichen Einsatzkräften, aber auch mit Personen des Gastfanlagers. Im weiteren Verlauf wäre aufgrund der hohen Personendichte in diesem Bereich eine Schädigung auch unbeteiligter Dritter nur schwer zu verhindern“(3).
Fernab von jeglichem Bewusstsein für Realität schürt die Polizei mit dieser Maßnahme Angst in großem Umfang. Die Begründung, die sich gefühlt wie eine Rechtfertigung liest, lässt einem unbeteiligten Leser den Eindruck entstehen, dass die Personen, gegen die sich das Betretungsverbot richtet, die öffentliche Sicherheit mit ihrer bloßen Anwesenheit gefährden. Diese vermeintlich präventive Maßnahme spricht den Betroffenen von Grund auf die Fähigkeit ab, sich an diesem Tag wie ein freier Mensch zu bewegen. An dieser Stelle soll lediglich auf die Stellungnahme vom Derbytag verwiesen werden (4). Die Polizei stellt den betroffenen Personenkreis in der öffentlichen Wahrnehmung damit als Kriminelle dar und unterdrückt damit jegliche Form einer ansonsten wünschenswerten „Wiedereingliederung“ eben dieser Personen. Wer verübelt da den Journalisten, dass sie einen solch ausführlichen Pressebericht der Polizei noch hinterfragen?
Wie systematisch die verschiedenen Interessengruppen (diesmal die Stadt Braunschweig und Polizei) zusammenwirken, zeigt sich auch bei der Anmeldung und Vorbereitung der Demonstration der Blau-Gelben Hilfe. Die hier geforderten Auflagen für den Demonstrationszug stehen in keinerlei Verhältnis zum eigentlichen Sinn und Zweck einer Demonstration, nämlich öffentlichkeitswirksam auf einen Missstand hinzuweisen. Beispielhaft hierfür ist anzuführen, dass die Stadt in Zusammenarbeit mit der Polizei vorerst ein völliges Banner- und Transparentverbot forderten und die geplante Route fernab viel besuchter Plätze verlief. Bei einer Route, die mehrere Hundert Meter durch Schrebergärten und abseits von Hauptstraßen verlief, kann eine öffentlichkeitswirksame Kundgebung der Demonstrationsinhalte schlichtweg nicht durchgeführt werden.
Am Derby-Wochenende fanden gleichwohl Presse und Polizei die vermeintliche Bestätigung für die Panikmache. Am Freitagabend wurden 170 Personen in Hildesheim festgesetzt und zu großen Teilen bis Montagmorgen in Gewahrsam genommen. Die Medien inszenierten in den ersten Berichten ein Gewaltszenario, bei dem eine etwa gleichgroße Masse von Braunschweiger Fans flüchten konnte. Diese völlig falsche Tatsache wurde nicht im Ansatz infrage gestellt und in späteren Berichten nicht mal korrigiert oder gleich völlig unterschlagen. Dabei stellte sich kein Journalist die Frage, wie 170 Braunschweiger zum Eintreffen der Polizei flüchten konnten, aber alle Hannoveraner festgesetzt werden konnten. Seriöse Berichterstattung und die Aufgabe des Journalismus, Geschehnisse objektiv aufzuarbeiten und somit der Bevölkerung als Informationsquelle zur Verfügung zu stellen, werden in keiner Weise erfüllt.
Das dieses Ereignis Gesprächsstoff bietet und für kontroverse Diskussionen sorgt, steht außer Frage. Das Diskussionen gerne auch mal ihren objektiven Rahmen überschreiten ist auch völlig normal, besonders wenn man mehr oder minder als Beteiligter betroffen ist. Als Träger eines öffentlichen Amtes ist man jedoch dazu angehalten, sich nicht durch seine persönliche Meinung in seiner Arbeit beeinflussen zu lassen. Ulf Küch, Leiter der KriPo Braunschweig, teilte am Samstag einen Bericht von n-tv auf Facebook und beglückwünschte seine hannoverschen Kollegen zur „Verhinderung“ der Massenschlägerei und schreibt weiter, dass in Braunschweig auch einige dieser „Irrlichter“ aufgenommen werden würden. Aus diesem Beitrag entstand eine Diskussion, die durchaus Fragen nach der Qualifikation einiger Teilnehmer für ihr verantwortungsvolles Amt aufwirft. Zum Beispiel äußerte sich Rainer Bruckert, ehemaliger Landesvorsitzender und stellvertretender Bundesvorsitzender beim Bund Deutscher Kriminalbeamter und Abteilungsleiter des LKA Niedersachsen, wie folgt: „Die Zahl der Arschlöcher steigt gefühlt täglich. Ich hoffe nur, dass die Festgenommenen nach Gefahrenabwehrrecht bis Montagmorgen staatliche Obhut genießen dürfen. 170 Vollpfosten weniger beim Derby.“. Im weiteren Gesprächsverlauf fragt Bruckert nach der Anwesenheit Küchs im Stadion, die dieser verneinte, mit der Begründung, er wäre in der Strafverfolgung tätig. Darauf antwortete Bruckert: „Vielleicht kannst du dem einen oder anderen Vollpfosten Deinen persönlichen Dank dafür ausdrücken:-P“. Fast dankenswert stellt Küch kurz danach fest: „Auch wenn es Idioten sind, bleiben es dennoch Menschen.“ (5).
Das objektiv-nüchterne Resümee des 06. Novembers: Keine Ausschreitungen vor, während und nach dem Spiel, zwei kontrollierte Pyro-Aktionen (Hannoi symbolisch nach einer Spielzeit von 13 Minuten und 12 Sekunden, Braunschweig zu Beginn der zweiten Hälfte), die seit Jahren üblichen Schmähgesänge (die Öffentlichkeit ist empört), sowie einige Transparente. Hervorzuheben ist noch das große Schwarze „Wir vergessen nie – A.C.A.B“-Transparent, welche dazu führte, dass Dietmar Schilff, Landesvorsitzender und stellvertretender Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei seine skurrile, persönliche Meinung in einem weinerlichen Leserbrief äußerte und die Polizei durch das Transparent in die Opferrolle zu katapultieren versuchte. Apropos GdP: Die Gewerkschaft der Polizei forderte öffentlich Konsequenzen aus dem Verhalten der Spieler und kritisierte tatsächlich, dass die Mannschaft nach dem Spiel den traditionellen Gang in die Südkurve zum abklatschen und gemeinsamen Feiern antrat, nachdem die Beamten durch das Transparent beleidigt wurden. Dass der breiten Masse der Gesellschaft mittlerweile eine regelrechte „Empörungskultur“ vorgelebt wird, gepaart mit Scheinheiligkeit verschiedenster Institutionen und der Naivität des immer fleißig der Presse gehorchenden Volkes, wird damit einmal mehr eindrucksv0ll bewiesen.
Nochmal zu Schilff, dem beim Verfassen des Leserbriefes wohl die Tränen über seine Tastatur geflossen sind: Seit Jahrzehnten ist die Abkürzung „A.C.A.B.“ (das steht übrigens für ALL COPS ARE BASTARDS) fester Bestandteil vieler Jugend- und Subkulturen. Sich darüber als plötzlich neuaufgetretene Erscheinung der Diffamierung gegenüber Polizisten zu mokieren ist für meinen Geschmack dann doch etwas zu übertrieben.
Und was sagt das Innenministerium? Niedersachsens Innenminister Pistorius selbst kritisiert ebenfalls unsere Mannschaft, dass sie den Block 9 hätten aussparen sollen. Ansonsten möchte Pistorius schnellstmöglich mit der DFL bezüglich des Rückspiels Kontakt aufnehmen: Dieses könnte nämlich auf die Osterfeiertage fallen. Einen Großeinsatz wie der am Sonntag ist den Polizisten und deren Familien nicht zuzumuten (6)… Bringt sich Herr Pistorius etwa schon für die Stelle als Minister für Inneres im Bund in Stellung?
Lange Rede, kurzer Sinn: Ein Dynamit-Derby ohne Dynamit, eine „gefühlt täglich ansteigende Zahl von Arschlöchern“, viele vermeintlich wichtige Leute mit undifferenzierten Meinungen, ein Innenminister auf Stimmfang und die Erkenntnis, dass man sich nicht nur in Braunschweig mit undifferenzierter Berichterstattung, Panikmache und fragwürdigen Auslegungen der Gesetzgebung beschäftigen muss.
Fragwürdig auch, wie es mittlerweile zur Leitstrategie diverser Institutionen werden kann, sich selbst pseudohaft zu empören und größtenteils völlig harmlose Fakten zu neuen Sphären der Gewalt und des Hasses zu machen. Jedem ist dringend zu raten mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und nicht naiv und genährt vom Einheitsbrei allen Dingen zu glauben. Alleine durch den bloßen Menschenverstand und etwas kritischer Hingabe erhält man oftmals einen ganz anderen Blickwinkel auf bestimmte Dinge – und das nicht nur beim Fußball.
- http://www.bild.de/bundesliga/2-liga/saison-2016-2017/spielbericht-eintr-braunschweig-gegen-hannover-96-am-12-Spieltag-46885698.bild.html
- http://ultra1894.de/wie-man-ein-kuenstliches-horror-szenario-heraufbeschwoert-teil-2/#more-2586
- http://www.presseportal.de/blaulicht/pm/11554/3469475
- http://www.cattiva-brunsviga.de/wordpress/?p=6077
- https://www.facebook.com/ulf.kuch/posts/968533149918711
- http://www.haz.de/Nachrichten/Sport/Fussball/Hannover-96/Innenminister-Boris-Pistorius-ueber-Derby-Hannoer-96-gegen-Eintracht-Braunschweig